Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

  Ein Rückwärtsgucker und  Nichtdrüberwegkommenwoller

Gert Loschütz, geboren 1946 in Genthin, kam 1957 mit seinen Eltern in den Westen. Für seinen 2018 erschienenen Roman Ein schönes Paar stand das Schicksal seiner Familie Pate. Auch der Roman Flucht aus dem Jahr 1990, 1988 zunächst als Hörspiel Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist erschienen und nun unter diesem Titel im Verlag Schöffling 2022 neu aufgelegt, ist autobiografisch inspiriert. Im Mittelpunkt steht ein Ich-Erzähler, der auch 28 Jahre nach seiner Flucht als Zehnjähriger in den Westen nicht zur Ruhe kommt.

Ein schicksalhaftes Datum
Karsten Leiser
wird den Maitag Ende der 1950er-Jahre, als er ohne jedes für ihn erkennbare Vorzeichen und damit ohne jede Möglichkeit, Abschied zu nehmen, mit seinen Eltern in den Westen flieht, nie vergessen. Plothow, die fiktive Kleinstadt im Havelland, die auch in Ein schönes Paar Herkunftsort der Familie war, ist für ihn Kindheit, Sehnsuchts- und Erinnerungsort zugleich. Obwohl die Mutter genau wie der Vater in den Westen gewollt hatte, will sie dort nicht ankommen, genau so wenig wie der Sohn. Als die Mutter erkrankt und exakt ein Jahr nach der Flucht stirbt, wird das Datum für Karsten zur Obsession:

Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. (S. 20)

… daß ich von nun an damit rechnete, daß jedes Unglück auf diesen Tag falle. (S. 83)

© B. Busch

Weder seine häufigen Grenzübertritte als Reisejournalist noch seine Hotelübernachtungen können den Gedanken an das damalige Passieren der Grenze und die erste Nacht im Hotel an jenem Maitag auslöschen. Seine Partnerschaften scheitern. An den Jahrestagen, die er mal in Italien, mal in Irland, mal im Zug nach Berlin verbringt, kommt es zu rätselhaften Unglücken, tatsächlichen oder herbeifantasierten, und er wird sein Trauma genau so wenig los wie den alten Koffer.

Lügen oder Wahrheit
Im erste Viertel des in kurzen Absätzen ohne Kapiteleinteilung verfassten Romans fürchtete ich zu scheitern, zu unklar waren mir viele Andeutungen, zu durcheinander die Episoden in Italien, in Irland und zuletzt am 28. Jahrestag auf einer Zugfahrt nach Berlin, alles einem „Du“ erzählt, das die Lebenspartnerin Vera meint. Dann allerdings wurden im Mittelteil der Geschichte Fäden verknüpft, wiederkehrende Motive bekamen einen Sinn, die Abschnitte wurden länger und die Erzählteile über die Flucht, die Erkrankung und den Tod der Mutter und die Qualen in der Schule las ich gern. Zu meinem Bedauern brachte das letzte Viertel aber wieder mehr Verwirrung als Klarheit und ich wurde es müde, Szene für Szene auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, einzuordnen und zu deuten. Karsten, der Mann, der nie über die Entwurzelung und den vermeintlichen Verrat der Eltern hinwegkommt, nie versucht, deren Beweggründe nachzuvollziehen und stattdessen ausschließlich um sich selbst kreist und sich in seiner Traurigkeit suhlt, ging mir zunehmend auf die Nerven. Vera spricht vor der Trennung treffend von „Rückwärtsgucken“, „Nichtdrüberwegkommenwollen“ und einer “Chimäre, der er den Namen seiner Geburtsstadt gegeben hat“ (S. 192/193).

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist scheint mir eher Männer- als Frauenroman zu sein und verlangt viel Verständnis für einen selbstmitleidigen Protagonisten. Wer gerne interpretiert und lose Fäden liebt, wird damit glücklich. Allen anderen empfehle ich Ein schönes Paar, sprachlich ebenso herausragend, aber weniger selbstmitleidig, rätselhaft und konstruiert.

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Schöffling & Co. 2022
www.schoeffling.de

 

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